Kanban rechnet sich: Was eine Studie mit 511 Fachkräften zeigt
Wie Karten, Fluss und WIP-Limits wirtschaftliche Nachhaltigkeit in Fabriken und Wissensarbeit beeinflussen
Kanban wirkt – aber rechnet es sich wirklich?
Du kennst das Bild. Irgendwo hängt ein Board. Spalten von „To Do” bis „Done”. Karten mit Tasks, Epics, Bugs. Vielleicht noch ein paar Avatare. Alle sagen, es sei „agil”. Doch wenn Du ehrlich bist, weisst Du oft nicht, ob dieses Board Deinem Unternehmen wirklich etwas bringt. Spart es Kosten? Macht es Lieferzeiten zuverlässiger? Oder schützt es nur vor dem totalen Kontrollverlust?
Genau an diesem Punkt wird die Studie aus den mexikanischen Maquiladoras spannend. Dort arbeitet niemand mit Jira-Avataren, sondern mit Fabriklinien. Mit echtem Material, das nicht nur „in Review” liegt, sondern entweder rechtzeitig beim Kunden ankommt oder Geld verbrennt. Die Autoren haben 511 Fachkräfte befragt und mit Strukturgleichungsmodellen untersucht, wie Kanban mit One-Piece-Flow, Just-in-Time und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit zusammenhängt. Keine Meinung, sondern Daten. Keine Symbolpolitik, sondern ein Modell, das zeigt: Wenn Kanban ernsthaft eingeführt wird, verändert sich der Fluss. Und dieser veränderte Fluss hängt messbar mit wirtschaftlichen Ergebnissen zusammen.

Das berührt eine unbequeme Frage für Wissensarbeit. Wenn physische Fabriken mit Kanban nachweislich effizienter, planbarer und wirtschaftlich robuster werden, was bedeutet das für Teams, die „nur” mit Tickets arbeiten? Für Product Owner, die zu viele parallele Epics jonglieren? Für Security- oder Compliance-Teams, die in Eskalationen ertrinken, obwohl sie ein „Kanban-Board” haben?
Die Studie legt eine Kette nahe, die Du vermutlich auch aus Deinem Alltag kennst. Kanban verändert das System nicht, weil die Karten schön aussehen, sondern weil sie den Fluss sichtbar machen. One-Piece-Flow reduziert das staccatoartige „ein bisschen hier, ein bisschen dort” und zwingt zu kleineren, fertigstellbaren Einheiten. Just-in-Time sorgt dafür, dass Arbeit nicht aus Reflex gestartet wird, sondern dann, wenn Kapazität und Bedarf zusammenpassen. Am Ende steht wirtschaftliche Nachhaltigkeit, also die Fähigkeit, längerfristig Geld zu verdienen, ohne Teams und Ressourcen zu verschleissen.
Überträgst Du diese Logik auf Wissensarbeit, wird es konkret. Kürzere Durchlaufzeiten bedeuten weniger Eskalationen und weniger Feuerlöschen. Weniger angefangene Arbeit reduziert Verschwendung, weil Du weniger beginnst, was nie fertig wird. Bessere Planbarkeit erhöht die Glaubwürdigkeit gegenüber Stakeholdern und führt zu weniger politischem Druck und teuren Ad-hoc-Projekten. All das sind ökonomische Effekte, auch wenn sie in Deinem Controlling vielleicht noch nicht sauber sichtbar sind.
Die spannende Botschaft: Kanban ist nicht einfach eine nette Visualisierung für Teams, die „irgendetwas mit agil” machen wollen. Die Daten aus der Fabrik zeigen, dass Kanban, Flussorientierung und WIP-Limits Bausteine eines ökonomischen Steuerungsmodells sind. Die Frage ist nicht, ob Du Karten an die Wand hängst. Die Frage ist, ob Du Kanban so einsetzt, dass sich Deine wirtschaftliche Realität messbar verbessert.
Was sagt die Studie – und wie weit tragen ihre Aussagen?
Die Autoren der Studie gehen sehr systematisch vor. Sie interessiert, wie stark Kanban tatsächlich mit One-Piece-Flow, Just-in-Time und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit zusammenhängt. Nicht als Konzept, sondern als messbares Geflecht von Zusammenhängen. Dafür befragen sie 511 Fachkräfte aus der Maquiladora-Industrie in Ciudad Juarez in Mexiko und bilden daraus ein Strukturgleichungsmodell.
Im Modell stehen vier Grössen im Zentrum. Kanban (KAN) beschreibt, wie konsequent Kanban als Steuerungsinstrument eingesetzt wird, also Karten, Pull-Signale, klare Regeln für Nachschub und Arbeitsstart. One-Piece-Flow (OPF) steht für den Fluss einzelner Teile durch den Prozess, weg von grossen Batches. Just-in-Time (JIT) beschreibt, wie gut Mengen und Zeitpunkte der Produktion zum Bedarf passen. Economic Sustainability (ENS) bildet die wirtschaftliche Nachhaltigkeit ab, zum Beispiel Kostenstruktur, Profitabilität und ökonomische Robustheit der Unternehmen.
Die Forscher formulieren fünf Hypothesen. Sie erwarten, dass Kanban sowohl OPF wie JIT positiv beeinflusst, dass OPF seinerseits JIT stärkt und dass sowohl OPF wie JIT einen positiven Effekt auf die wirtschaftliche Nachhaltigkeit haben. Mit Hilfe eines Strukturgleichungsmodells prüfen sie diese Annahmen. Das Modell basiert auf Partial-Least-Squares-Algorithmen und bildet direkte und indirekte Effekte ab.
Die Ergebnisse fallen klar aus. Kanban erklärt 35.6 Prozent der Varianz von One-Piece-Flow und 16.6 Prozent der Varianz von Just-in-Time. Teams, die Kanban reifer einsetzen, berichten also von deutlich besserem Fluss einzelner Stücke und von präziser aufeinander abgestimmten Prozessschritten. Gleichzeitig zeigt sich ein starker positiver Effekt von OPF auf JIT. Wenn der Fluss von Einzelteilen stabil läuft, lässt sich Just-in-Time sauberer umsetzen. Und genau diese Kombination aus OPF und JIT hängt signifikant mit wirtschaftlicher Nachhaltigkeit zusammen. Beide Grössen verbessern Kostenposition und Profitaussichten der Unternehmen.
Damit entsteht ein klares Bild. Kanban wirkt nicht isoliert, sondern als Auslöser einer Kette. Besser eingeführtes Kanban führt zu stabilerem Fluss, stabilerer Fluss unterstützt JIT, und JIT zusammen mit OPF verbessert die wirtschaftliche Nachhaltigkeit. Kanban schafft also nicht nur Transparenz, sondern öffnet den Weg zu ökonomischen Effekten, die im Modell sichtbar werden.
Trotzdem lohnt sich ein genauer Blick auf die Grenzen dieser Aussagen. Die Studie spielt in einem sehr speziellen Kontext. Maquiladoras sind exportorientierte Fertigungsbetriebe mit hohem Druck auf Effizienz, klar definierten Prozessen und stark standardisierten Abläufen. Die Daten stammen zudem aus einer Region und einer Branche. Wissensarbeit in Software, Security oder Marketing funktioniert anders. Menschen wechseln häufiger den Kontext, Arbeit ist weniger standardisiert, Nachfrage ändert sich dynamischer. Die Mechanismen können ähnlich sein, müssen es aber nicht.
Hinzu kommt die Art der Datenerhebung. Die Studie basiert auf Befragungen. Die Fachkräfte bewerten selbst, wie gut Kanban, OPF, JIT und wirtschaftliche Nachhaltigkeit in ihrem Umfeld umgesetzt sind. Das hat Vorteile, weil es wahrgenommene Realität abbildet, also genau das, was Entscheidungen im Alltag prägt. Es hat aber auch Grenzen. Kein externes Finanz- oder Produktionscontrolling wurde mit den Antworten verknüpft. Ob die Profitabilität tatsächlich in dieser Höhe steigt, lässt sich aus den Daten nicht direkt ablesen.
Ein dritter Punkt betrifft die Zeit. Das Strukturgleichungsmodell arbeitet mit einem Querschnitt, also mit Daten zu einem Zeitpunkt. Kausale Ketten lassen sich damit nur eingeschränkt beweisen. Es ist plausibel, dass Kanban zu besserem Fluss führt, der dann JIT und ökonomische Ergebnisse verbessert. Denkbar ist aber auch, dass wirtschaftlich erfolgreichere Unternehmen generell strukturierter arbeiten und darum sowohl mehr Kanban-Elemente nutzen wie bessere Resultate melden. Die Autoren weisen selbst darauf hin, dass zukünftige Forschung längsschnittlich arbeiten sollte, um Effekte über die Zeit zu messen.
Trotz dieser Einschränkungen bleibt der Kern wichtig. Die Studie zeigt konsistente, statistisch signifikante Zusammenhänge und ein Modell, das fachlich Sinn ergibt. Kanban, Flussdenken und JIT hängen in dieser Produktionswelt nachweislich mit wirtschaftlicher Nachhaltigkeit zusammen. Wenn Du die Ergebnisse in die Wissensarbeit überträgst, musst Du diese Grenzen im Kopf behalten. Du kannst nicht davon ausgehen, dass jedes digitale Kanban-Board automatisch dieselben Effekte erzeugt. Du kannst aber sehr ernst nehmen, dass dort, wo Kanban mehr ist als ein buntes Board, messbare ökonomische Hebel entstehen.
Was sagt uns das für Wissensarbeit? Von Materialfluss zu Aufgabenfluss
Stell Dir die Produktionslinie aus der Studie vor und ersetze jedes Bauteil durch ein Ticket. Statt Metallteilen bewegen sich Anforderungen, Features, Incidents, Offerten, Sicherheitsabklärungen. In der Fabrik entscheidet Kanban darüber, wann ein Teil in den Prozess gezogen wird, wie gross die Batches sind und wie gleichmässig der Fluss läuft. In der Wissensarbeit entscheidet Kanban darüber, wie viele Aufgaben gleichzeitig im Kopf Deines Teams liegen, wie oft ihr unterbrochen werdet und wie gut Ihr Versprechen gegenüber Stakeholdern haltet.
Die Kanban-Methode für Wissensarbeit baut genau auf diesen Flussgedanken. Sie verlangt, dass Du Arbeit sichtbar machst, den Workflow als System verstehst, WIP explizit limitierst und im Pull-Modus arbeitest. Ziel ist nicht ein schönes Board, sondern ein stabiler Aufgabenfluss mit weniger Blockaden und weniger Verschwendung. Studien aus der Softwareentwicklung zeigen, dass Teams mit Kanban kürzere Durchlaufzeiten, bessere Planbarkeit und höhere wahrgenommene Qualität erreichen. Genau diese Kombination aus Fluss, Planbarkeit und qualitativen Effekten hat im Produktionsumfeld der Maquiladoras zu besserer wirtschaftlicher Nachhaltigkeit geführt.
WIP-Limits sind dabei der wirtschaftliche Hebel. Ohne Limit wird jedes freie Zeitfenster mit neuem Work-in-Progress gefüllt. Mitarbeitende nehmen noch ein Ticket „schnell nebenbei”, Meetings starten zusätzliche „Initiativen”, Stakeholder pushen dringende Sonderwünsche ins System. Kanban-Guides und Body-of-Knowledge-Dokumente betonen, dass WIP-Limits genau dieses Muster brechen sollen, indem sie die Anzahl paralleler Aufgaben pro Spalte oder Person begrenzen. Forschung zu Kanban in wissensintensiven Umgebungen zeigt, dass dadurch der Fluss messbar ruhiger läuft und der Anteil reiner Wartezeit sinkt.
Für Dich bedeutet das: Wenn Dein Team 20 bis 30 Tickets parallel bearbeitet, zahlst Du dafür mit Zinsen. Du zahlst mit Kontextwechseln, mit Koordinationsaufwand, mit Missverständnissen zwischen Schnittstellen, mit Nachtschichten vor Deadlines. Du siehst diese Kosten selten direkt in der Erfolgsrechnung, aber Du spürst sie in Überstunden, Fluktuation, Krankheitsausfällen, verpassten Marktchancen. Wirtschaftliche Nachhaltigkeit in Wissensarbeit heisst, diese versteckten Kosten zu senken, ohne den Output zu reduzieren. Kanban gibt Dir dafür ein Set an Stellschrauben.
Die Übersetzung der Studienlogik in Deinen Alltag könnte so aussehen: Du visualisierst zuerst die komplette Wertschöpfungskette für einen typischen Work Item Typ, zum Beispiel ein Sicherheits-Assessment, ein Feature oder eine Kampagne. Du markierst, wo Arbeit hängen bleibt, wo mehrere Gremien nötig sind, wo Du auf Zuarbeit wartest. Danach definierst Du WIP-Limits für die Engpass-Spalten und für die Rollen, die dort arbeiten. Du misst Lead Time, Blocker, Rework und schaust Dir in festen Abständen an, wie sich diese Kennzahlen entwickeln. So läuft im Kleinen genau das Programm, das in der Maquiladora-Studie im Grossen untersucht wurde: Kanban als Katalysator für Fluss, Fluss als Voraussetzung für besseres Just-in-Time, beides zusammen als Basis für wirtschaftliche Nachhaltigkeit.
So wird aus Kanban nicht ein weiteres Framework, das auf Folien gut aussieht, sondern ein ökonomisches Instrument. Du verbindest visuelle Steuerung, WIP-Limits und Flow-Metriken mit harten Fragen: Wie wirkt sich das auf unsere Durchlaufzeiten aus? Wie viele Eskalationen sparen wir? Welche Überstunden fallen weg? Welche Projekte liefern wir pünktlich, die früher gekippt wären? In diesem Moment beginnt Kanban, sich zu rechnen. Genau dort schliesst sich der Kreis zur Fabrikstudie und öffnet sich gleichzeitig ein sehr praktisches Feld für Wissensarbeit.
Abschliessende Gedanken: Wenn Kanban mehr ist als ein Board
Die Studie aus den mexikanischen Maquiladoras zeigt ein klares Bild. Wo Kanban ernsthaft eingeführt wird, verändert sich der Fluss. One-Piece-Flow wird stabiler, Just-in-Time läuft sauberer, wirtschaftliche Nachhaltigkeit steigt. Die Autoren belegen das mit Daten von 511 Fachkräften und einem Strukturgleichungsmodell, das den Weg von Kanban über Fluss und JIT bis zu ökonomischen Effekten sichtbar macht. Kanban wirkt also messbar, nicht nur als Ordnungsgefühl an der Wand.
WIP-Limits sind dabei kein Detail, sondern der Hebel, an dem Du als erstes drehen solltest. Sie begrenzen parallele Arbeit, machen Engpässe sichtbar und ermöglichen einen stabileren Fluss von Aufgaben. Grosse Anbieter von Kanban-Guides und agilem Projektmanagement betonen genau das: WIP-Limits reduzieren angefangene, aber nie fertiggestellte Arbeit, verbessern Durchsatz und verkürzen Lieferzeiten. Genau dieser Mechanismus bildet in der Fabrikstudie den Weg zur wirtschaftlichen Nachhaltigkeit ab.
Wenn Du Kanban heute vor allem für Transparenz nutzt, verschenkst Du Potential. Ein Board ohne echte Limits, ohne Flow-Metriken und ohne Verbindung zu wirtschaftlichen Grössen bleibt Oberfläche. Die Lean- und Kanban-Literatur für Entwicklung und Wissensarbeit beschreibt einen anderen Anspruch: Visualisiere Arbeit, limitiere WIP, steuere den Fluss, mache Regeln explizit, miss Kennzahlen wie Durchlaufzeit, Lead Time und Durchsatz. Die Studie aus Mexiko liefert Dir dazu ein starkes Argument. Sie zeigt, dass genau diese Praktiken in einem harten Produktionsumfeld ökonomische Spuren hinterlassen.
Die Frage für Dich lautet: Willst Du Kanban als Visualisierungstool oder als ökonomisches Instrument nutzen? Wenn Du es als Instrument verstehst, verknüpfst Du jedes Experiment mit einer Hypothese. Senkt ein strenges WIP-Limit Deine durchschnittliche Durchlaufzeit? Reduziert ein klar definiertes Pull-System Deine Eskalationen? Verringert ein bewusst gemanagter Fluss die Überstunden im Quartalsendspurt? Kanban-Experten empfehlen, genau diese Effekte mit Metriken wie Durchlaufzeit, WIP, Durchsatz und Cumulative-Flow-Diagrammen zu beobachten und Trends über Zeit zu verfolgen. So verbindest Du Methodenpraxis mit wirtschaftlichen Ergebnissen.
Die Studie nimmt Dir eine Ausrede. Du kannst nicht mehr sagen, Kanban sei nur ein „agiles Nice-to-have”. Es existiert nun Forschung, die zeigt, dass Kanban in Produktionssystemen über Fluss und JIT zur wirtschaftlichen Nachhaltigkeit beiträgt. Du kannst diese Ergebnisse nicht eins zu eins auf jedes digitale Team legen, aber Du kannst sie als Einladung verstehen, Deine eigenen Daten zu sammeln. Miss Deine Flow-Metriken, leite explizite Hypothesen ab, experimentiere mit WIP-Limits, beobachte die Auswirkungen auf Planbarkeit, Stressniveau, Rework, Liefertermine.
Wenn Du Kanban so nutzt, veränderst Du den Charakter Deiner Arbeit. Aus „Wir haben halt ein Board” wird ein System, das Deinen Fluss schützt, Deine wirtschaftliche Basis stärkt und Deinen Alltag berechenbarer macht. Die Karten an der Wand oder im Tool sind dann nicht mehr Dekoration, sondern Entscheidungshilfen. Du triffst sie künftig nicht nur nach Bauchgefühl, sondern mit einem Blick auf Kennzahlen, die zeigen, wie gut Dein System wirklich läuft.
Die wichtigste Frage bleibt bei Dir: Welches Experiment mit Kanban, WIP-Limits und Fluss startest Du als nächstes, um die wirtschaftliche Nachhaltigkeit Deiner Wissensarbeit konkret zu verbessern?

