Lonely & Isolated: 20 Jahre Sterberisiko im Blick
Warum Einsamkeit tödlicher sein kann als manche klassische Risikofaktoren – und was genau so gefährlich daran ist
Im vollen Speisesaal des Alterszentrums klappern Teller, jemand lacht laut über einen Witz, im Hintergrund läuft leise Musik. Am Tisch in der Ecke sitzt eine ältere Frau, vor ihr ein halb gegessener Teller. Neben ihr sitzen andere Menschen, die sie mit dem Vornamen kennen. Trotzdem sagt sie fast nichts. Niemand fragt nach ihrem Tag. Niemand kennt ihre Sorgen. Wenn du sie fragst, ob sie sich einsam fühlt, nickt sie nach kurzem Zögern. „Ich sehe viele Leute. Aber wirklich da ist niemand.”

Diese Szene wirkt unscheinbar. Sie beschreibt einen Alltag, den viele ältere Menschen erleben. Und genau darin liegt das Problem: Einsamkeit fällt oft nicht auf, weil sie sich hinter funktionierenden Abläufen versteckt. Termine, Kontakte, Pflichten, oberflächlicher Austausch. Nach aussen wirkt alles stabil, innen fühlt es sich leer an.
Hier hilft es, sauber zu unterscheiden. Soziale Isolation beschreibt die objektive Situation: Lebst du allein? Wie oft triffst du andere Menschen? Hast du regelmässigen Kontakt zu Familie, Freunden, Nachbarn? Diese Faktoren lassen sich zählen und erfassen. Einsamkeit beschreibt dein inneres Erleben: Fühlst du dich zugehörig? Hast du das Gefühl, dass dich jemand wirklich kennt? Kannst du dich jemandem anvertrauen, wenn es ernst wird? Du kannst mitten in einer Gruppe stehen und dich gleichzeitig einsam fühlen. Umgekehrt kannst du allein wohnen und dich gut eingebunden fühlen.
Für die Gesundheit macht dieser Unterschied einen grossen Unterschied. Es reicht nicht, nur zu zählen, wie viele Kontakte jemand pro Woche hat. Entscheidend ist, wie diese Kontakte erlebt werden. Die aktuelle Forschung zeigt, dass Einsamkeit und soziale Isolation jeweils eigene Spuren hinterlassen und dass beides mit dem Sterberisiko zusammenhängt. Gerade bei älteren Menschen ist der Zusammenhang zwischen Einsamkeit, sozialer Isolation und Sterberisiko älterer Menschen deutlich.
Eine grosse europäische Längsschnittstudie über rund 20 Jahre hat das eindrücklich belegt. Die Forschenden haben ältere Menschen wiederholt befragt und ihre Daten mit Sterberegistern verknüpft. Sie wollten wissen: Reicht es, viele Kontakte zu haben, oder zählt vor allem das Gefühl der Verbundenheit? Das Ergebnis ist unbequem: Einsamkeit und Isolation wirken getrennt und kombiniert auf das Sterberisiko. Besonders gefährdet sind ältere Menschen, die sich einsam fühlen, obwohl sie formal nicht isoliert sind. Also genau jene Personen, die auf den ersten Blick «versorgt» wirken, weil sie Familie, Nachbarn oder Aktivitäten haben, innerlich aber keine echte Nähe erleben.
Das verschiebt den Fokus. Es geht nicht nur darum, ob jemand Besuch hat, ob jemand im Verein ist oder ob Angehörige in der Nähe wohnen. Es geht darum, ob Beziehungen tragen. Ob jemand sich gesehen und ernst genommen fühlt. Ob Gespräche über das Wetter hinausgehen.
Vielleicht denkst du jetzt an deine Eltern, Grosseltern, an ältere Nachbarn oder an deine eigene Zukunft. Vielleicht hast du schon Situationen erlebt, in denen jemand sagte: „Ist ja nett, dass alle mal vorbeikommen. Aber das meiste bleibt an der Oberfläche.” Genau hier setzt die neue Evidenz an. Sie zeigt, dass Einsamkeit nicht nur weh tut, sondern sich in langfristigen Gesundheitsdaten wiederfindet.
In diesem Beitrag schauen wir uns zuerst genauer an, was diese 20-jaehrige Studie herausgefunden hat. Danach geht es um die Frage, was du konkret tun kannst, um Einsamkeit und Isolation zu verringern, bei dir selbst und bei Menschen in deinem Umfeld. Denn wenn Einsamkeit das Sterberisiko erhöht, reicht Mitleid nicht. Dann braucht es bewusste Entscheidungen, andere Gespräche und klarere Prioritäten im Alltag. Bist du bereit, dir das genauer anzusehen?
Was sagt die Studie?
Die Forschenden stützen sich auf eine grosse norwegische Langzeitstudie: NorLAG, die Norwegian Life Course, Ageing and Generation Study. Rund 11’000 Menschen nahmen teil, 9’952 davon flossen in die Auswertung ein. Die Teilnehmenden waren mittleren und höheren Alters, wurden in drei Wellen (2002, 2007, 2017) befragt und mit den nationalen Sterberegistern verknüpft. Die Nachverfolgung lief über etwa 20 Jahre, bis November 2022. In dieser Zeit starben knapp 20 Prozent der Frauen und rund 27 Prozent der Männer aus der Stichprobe.
Statt nur Momentaufnahmen zu betrachten, verfolgt die Studie also Lebensläufe. Das macht die Befunde robust. Die Forschenden nutzten geschlechtsspezifische Cox-Regressionsmodelle, eine Standardmethode, um das Sterberisiko über die Zeit zu schätzen. Sie kontrollierten nicht nur für Alter, sondern auch für körperliche und psychische Gesundheit, Einkommen und Bildung. So lässt sich besser erkennen, welcher Anteil des Sterberisikos mit Einsamkeit und sozialer Isolation zusammenhängt und welcher mit anderen bekannten Risikofaktoren.
Wie wurde soziale Isolation gemessen?
Soziale Isolation erfassten die Forschenden als objektive Struktur des Netzwerks. Vier Elemente standen im Zentrum:
Hat die Person einen Partner oder lebt sie ohne Partner?
Wie häufig besteht Kontakt zu den eigenen Kindern?
Wie häufig besteht Kontakt zu Freunden?
Wie gross ist der Haushalt?
Aus diesen Angaben entstand ein Index. Zusätzlich schauten die Forschenden sich einzelne Bausteine separat an, etwa „kein Partner” oder „weniger als monatlicher Kontakt zu Kindern”. Genau das ermöglicht es, die besonders riskanten Konstellationen zu identifizieren.
Das Ergebnis ist deutlich: Soziale Isolation erhöht das Sterberisiko langfristig. Im voll adjustierten Modell, das indirekt gemessene Einsamkeit und alle relevanten Kontrollvariablen enthält, liegt das Sterberisiko sozial isolierter Personen etwa 15 bis 16 Prozent höher als bei vergleichbaren nicht isolierten Personen, sowohl bei Frauen als auch bei Männern. Der Effekt ist kein Randphänomen, sondern bleibt bestehen, obwohl Gesundheit, Einkommen und Bildung bereits im Modell stecken.
Noch eindrücklicher wird es, wenn du die Einzelbausteine anschaust: Kein Partner zu haben und seltenen Kontakt zu eigenen Kindern zu pflegen, gehört zu den stärksten Prädiktoren für eine verkürzte Lebenszeit. Frauen ohne Partner wiesen ein um rund 40 Prozent erhöhtes Sterberisiko auf, Männer ohne Partner sogar um etwa 45 Prozent, verglichen mit Personen mit Partner. Weniger als monatlicher Kontakt zu Kindern zeigte ebenfalls deutlich erhöhte Risiken für beide Geschlechter.
Wie wurde Einsamkeit gemessen?
Einsamkeit erfassten die Forschenden auf zwei Arten:
über eine Skala mit indirekten Fragen, die Gefühle von Verbundenheit und Zugehörigkeit abbildet, ohne das Wort „einsam” zu verwenden
über eine direkte Frage: „Fühlst du dich einsam?”
Diese Unterscheidung zieht sich durch die ganze Studie. Zuerst zeigten die indirekten Einsamkeitsfragen klar erhöhte Sterberisiken. Jede Stufe mehr auf der Einsamkeitsskala ging mit rund 10 bis 12 Prozent höherem unverzerrten Sterberisiko einher. Das klingt eindrücklich. Doch im nächsten Schritt kamen soziale Isolation sowie Gesundheit, Einkommen und Bildung mit in die Modelle.
Hier passiert etwas Entscheidendes: Wenn diese Faktoren berücksichtigt werden, verliert die indirekt gemessene Einsamkeit ihren eigenständigen statistischen Effekt auf die Sterblichkeit, sowohl bei Frauen als auch bei Männern. Soziale Isolation bleibt relevant, Einsamkeit (indirekte Skala) nicht mehr. Das bedeutet nicht, dass Einsamkeit harmlos ist, sondern dass ihr Effekt teilweise über andere Grössen läuft, etwa über psychische Gesundheit.
Die direkte Frage nach Einsamkeit: ein Warnsignal vor allem für Männer
Der spannendste Befund betrifft die direkte Einsamkeitsfrage. Hier zeigt sich eine Geschlechterdifferenz.
Bei Frauen verschwindet der Effekt der direkt erfragten Einsamkeit, sobald soziale Isolation, Gesundheit, Einkommen und Bildung einbezogen werden.
Bei Männern bleibt direkt berichtete Einsamkeit auch im voll adjustierten Modell ein signifikanter Prädiktor für ein erhöhtes Sterberisiko. Die Hazard Ratio liegt bei etwa 1.20, Männer, die direkt angeben, einsam zu sein, haben also ein rund 20 Prozent höheres Sterberisiko als vergleichbare nicht einsame Männer.
Die Autorinnen und Autoren diskutieren dazu eine plausible Erklärung: Viele Männer geben Einsamkeit nur dann offen zu, wenn sie bereits stark ausgeprägt ist, weil Einsamkeit gesellschaftlich stigmatisiert bleibt. Die direkte Frage könnte bei Männern also eher sehr schwere, bereits chronische Einsamkeit erfassen, die sich noch deutlicher in der Gesundheit niederschlägt. Bei Frauen scheint das Muster anders zu verlaufen, dort lassen sich die Effekte eher durch andere Faktoren erklären.
Wirken Einsamkeit und Isolation zusammen stärker als einzeln?
Die Studie prüfte auch, ob Einsamkeit und soziale Isolation sich gegenseitig verstärken, also ob Menschen, die gleichzeitig stark isoliert und stark einsam sind, ein überproportional hohes Sterberisiko haben. Die Modelle enthielten entsprechende Interaktionsterme. Das Ergebnis fällt nüchtern aus: Die Interaktionen bleiben meist nicht signifikant, nur für Männer zeigt sich in einem Modell eine grenzwertig signifikante Interaktion.
Die Daten stützen damit die oft vermutete „Super-Risiko”-Gruppe weniger stark als erwartet. Entscheidend ist, dass soziale Isolation an sich das Sterberisiko erhöht und dass direkt berichtete Einsamkeit bei Männern einen zusätzlichen Effekt hat. Von einer klaren, massiven Synergie lässt sich hier nicht sprechen.
Was bleibt unter dem Strich?
Wenn du die Ergebnisse in einfachen Sätzen zusammenfasst, entsteht folgendes Bild:
Soziale Isolation erhöht das 20-jaehrige Sterberisiko älterer Menschen um etwa 15 bis 16 Prozent. Besonders problematisch ist es, keinen Partner zu haben und selten mit den eigenen Kindern in Kontakt zu stehen.
Indirekt gemessene Einsamkeit verliert ihren eigenständigen Effekt, sobald soziale Isolation, Gesundheit, Einkommen und Bildung berücksichtigt sind.
Direkt berichtete Einsamkeit bleibt bei Männern ein eigener Risikofaktor mit rund 20 Prozent Mehrsterblichkeit, auch wenn alles andere im Modell steckt.
Eine starke, statistisch saubere Verstärkung durch die Kombination von Einsamkeit und Isolation zeigt sich nur eingeschränkt.
Für dich bedeutet das: Es reicht nicht, nur zu fragen, ob jemand Leute um sich hat. Du musst auch fragen, wie diese Beziehungen aussehen und wie der Mensch sich dabei fühlt. Und wenn ein älterer Mann offen sagt, dass er sich einsam fühlt, dann ist das kein vages Stimmungsbild, sondern ein ernstes Warnsignal mit messbaren Folgen für seine Lebenserwartung.
Was kannst du tun?
Wenn du die Ergebnisse dieser Studie ernst nimmst, kommst du an einer unbequemen Frage nicht vorbei: Wo stehe ich selbst, und wie geht es den Menschen um mich herum? Es geht nicht um Schuld. Es geht darum, ob du Signale erkennst und ob du handelst.
Stell dir kurz zwei Achsen vor. Auf der einen Achse steht die Frage, wie viele belastbare Kontakte du hast. Auf der anderen Achse steht die Frage, wie verbunden du dich fühlst. Du kannst auf beiden Achsen gut dastehen, auf einer Achse abrutschen oder auf beiden. Genau hier setzt dein Handlungsspielraum an.
Du kannst mit einem ehrlichen Selbstcheck starten. Nicht mit einer endlosen Liste, sondern mit ein paar klaren Fragen, die du dir ohne Ausreden beantwortest:
Fühlst du dich oft allein, obwohl andere Menschen in deiner Nähe sind? Hast du mindestens eine Person, der du sehr Persönliches anvertrauen würdest? Wie oft triffst du Menschen, bei denen du dich nicht verstellen musst? Gibt es Tage, an denen du mit niemandem ein wirkliches Gespräch führst? Wenn du bei diesen Fragen ins Stocken kommst, lohnt sich ein genauerer Blick.
Wenn du merkst, dass eher die Struktur fehlt, also zu wenig echte Kontakte vorhanden sind, geht es um konkrete Schritte nach aussen. Das heisst nicht, dass du plötzlich zum Netzwerk-Profi werden musst. Es reicht, wenn du kleine, stabile Ankerpunkte schaffst. Ein fixer wöchentlicher Anruf bei einer bestimmten Person. Ein vereinbarter Spaziergang jeden zweiten Dienstag. Eine Einladung zum Abendessen, die nicht einmalig bleibt, sondern eine gewisse Regelmässigkeit bekommt. Solche Rituale wirken unspektakulär, bauen aber genau die Art von Verlässlichkeit auf, die Isolation vermindert.
Wenn du dagegen merkst, dass du Menschen um dich hast, dich aber innerlich trotzdem einsam fühlst, liegt der Fokus eher auf der Qualität deiner Beziehungen. Dann reicht mehr Kontakt allein nicht. Dann geht es darum, ob du dich zeigst. Ob du in Gesprächen auch Themen ansprichst, die dich wirklich beschäftigen. Ob du die Maske an gewissen Stellen senkst und riskierst, dass jemand dich in deiner Verletzlichkeit sieht. Das braucht Mut. Gleichzeitig führt kaum ein Weg daran vorbei, wenn du aus chronischer Einsamkeit herausfinden willst.
Die Studie zeigt, dass Männer besonders gefährdet sind, wenn sie offen sagen, dass sie einsam sind. Das heisst nicht, dass Männer schweigen sollen. Es heisst, dass du als Mann Einsamkeit als ernstes Signal nehmen solltest. Wenn dir der Satz „Ich fühle mich einsam” schon schwer fällt, kannst du dir klar machen, dass genau dieses Eingeständnis ein Wendepunkt sein kann. Du musst nicht sofort mit allen Freunden darüber sprechen. Eine Person reicht. Jemand, dem du vertraust. Vielleicht ein langjähriger Freund, vielleicht eine Schwester, vielleicht der Hausarzt. Der Schritt, es auszusprechen, hebt Einsamkeit aus der diffusen Zone und macht sie bearbeitbar.
Vielleicht bist du selbst gar nicht stark betroffen, hast aber Menschen im Umfeld, bei denen dich etwas stutzig macht. Eine ältere Nachbarin, die immer sagt, sie wolle niemandem zur Last fallen. Ein Onkel, der seit dem Tod seiner Partnerin kaum noch aus dem Haus geht. Ein Kollege, der nach der Pensionierung kaum noch von sozialen Aktivitäten erzählt. Du kannst diese Menschen nicht retten. Du kannst aber einen Unterschied machen, indem du beharrlich Kontakt hältst, konkrete Angebote machst und Fragen stellst, die über Smalltalk hinausgehen. Ein „Wie geht es dir wirklich in letzter Zeit?” wirkt direkter als zehn neutrale Kommentare über das Wetter.
Wenn du merkst, dass du oder jemand in deinem Umfeld sich in eine Spirale aus Rückzug, gesundheitlichen Problemen und Einsamkeit bewegt, ist professionelle Hilfe kein Zeichen von Schwäche. Gerade bei älteren Menschen spielt der Hausarzt eine Schlüsselrolle. Ein Gespräch dort kann klären, ob depressive Symptome eine Rolle spielen, ob körperliche Ursachen im Spiel sind und welche Angebote es vor Ort gibt. In vielen Regionen existieren Besuchsdienste, Mittagstische, Gesprächsgruppen oder niederschwellige Beratungsangebote.
Neben dem individuellen Handeln gibt es noch eine Ebene, die leicht übersehen wird: die Strukturen, in denen du dich bewegst. Du kannst in deinem Verein, deiner Gemeinde, deiner Firma oder Praxis Einfluss nehmen. Vielleicht geht es darum, bei einem Quartierverein auf ein neues Angebot für Alleinstehende zu drängen. Vielleicht darum, in einer Praxis ältere Patientinnen und Patienten gezielt auf ihre sozialen Kontakte anzusprechen. Vielleicht darum, im Unternehmen Programme zu fördern, die den Übergang in die Pension begleiten, statt ihn sich selbst zu überlassen.
Am Ende läuft vieles auf eine einfache Haltung hinaus: Du nimmst Einsamkeit und soziale Isolation so ernst wie andere bekannte Risikofaktoren. Du wartest nicht, bis jemand implizit um Hilfe bittet, sondern schaffst von dir aus Gelegenheiten für echten Kontakt. Du unterschätzt nicht, was ein regelmässiger Anruf, eine verlässliche Einladung oder ein offenes Gespräch langfristig bewirken kann.
Die Studie liefert dafür die harte Grundlage. Sie zeigt dir, dass Einsamkeit und soziale Isolation nicht nur unangenehm sind, sondern messbar Leben verkürzen. Was du daraus machst, entscheidet sich in deinem Alltag: in den Gesprächen, die du führst, den Menschen, die du im Blick behältst, und den Momenten, in denen du inneren Widerstand überwindest und aktiv auf jemanden zugehst.
Abschliessende Gedanken: Wenn Einsamkeit zum Gesundheitsrisiko wird
Einsamkeit galt lange als Thema für Feuilletons und Ratgeber. Die grosse Längsschnittstudie, um die es in diesem Beitrag geht, rückt sie in eine andere Kategorie. Einsamkeit und soziale Isolation erscheinen dort wie Blutdruck und Rauchen: als Faktoren, die das Sterberisiko messbar erhöhen. In diesem Licht bekommt jede Szene, in der eine ältere Person „es geht schon” sagt, eine andere Schärfe.
Du hast gesehen, dass die Forschenden kein vages Unbehagen gemessen haben, sondern über zwei Jahrzehnte verfolgt haben, wer stirbt und wer lebt. Sie haben nicht nur gezählt, wie viele Kontakte jemand hat, sondern auch erfasst, wie verbunden sich Menschen fühlen. Die Ergebnisse zeichnen ein klares Bild: Strukturelle Isolation schadet. Und wenn ein Mann offen sagt, dass er sich einsam fühlt, dann signalisiert das eine Lage, die sich in seiner Lebenserwartung niederschlagen kann.
Damit stehen zwei Fragen im Raum, denen du kaum ausweichen kannst. Die erste: Wie gehe ich mit meiner eigenen Einsamkeit und meinen Beziehungen um? Die zweite: Welche Rolle spiele ich im Leben der Menschen, die leiser werden, sich zurückziehen, sich mit einem „passt schon” aus Gesprächen verabschieden?
Einsamkeit bleibt oft unsichtbar, weil sie selten laut wird. Viele ältere Menschen wollen nicht zur Last fallen. Viele Männer haben gelernt, Gefühle zu verstecken, die nicht in das Bild von Stärke passen. So entstehen Biografien, in denen jemand objektiv nicht allein ist, innerlich aber das Gefühl hat, niemanden zu haben. Wenn du dieses Spannungsfeld ernst nimmst, siehst du, wie wichtig eine scheinbar einfache Frage wird: „Fühlst du dich manchmal einsam?”
Die Studie zeigt, dass sich aus der Antwort auf diese Frage mehr ableiten lässt als eine Stimmung. Sie zeigt, dass fehlende Partnerschaft und fehlender Kontakt zu Kindern die Risiken erhöhen. Du liest das vielleicht als abstrakten Befund. Gleichzeitig steckt darin eine praktische Konsequenz: Jede Beziehung, die du pflegst, hat einen gesundheitlichen Wert. Jede verlässliche Verbindung, die du aufbaust, senkt die Wahrscheinlichkeit, dass jemand unbemerkt in Isolation abrutscht.
Es lohnt sich, an dieser Stelle ehrlich zu dir zu sein. Hast du dir in den letzten Jahren systematisch Beziehungen aufgebaut, die dich tragen, wenn deine Gesundheit nachlässt, wenn du einen Partner verlierst, wenn dein soziales Umfeld sich verändert? Oder hoffst du darauf, dass „es dann schon irgendwie geht”? Wenn du merkst, dass du diese Frage nicht klar beantworten kannst, hast du jetzt einen Zeitpunkt, an dem du damit beginnen kannst, das zu ändern.
Gleichzeitig liegt in diesen Ergebnissen auch ein Stück Entlastung. Wenn Einsamkeit ein Risikofaktor ist, dann ist sie nicht in erster Linie ein Charakterfehler. Dann geht es nicht darum, ob jemand „zu empfindlich” ist, sondern darum, ob jemand mit einem realen Mangel an Nähe und Verlässlichkeit lebt. Das öffnet den Raum für eine andere Haltung. Statt „ich sollte mich nicht so anstellen” könntest du sagen: „Mein Bedürfnis nach Verbindung ist legitim, und es lohnt sich, etwas dafür zu tun.”
Auf der gesellschaftlichen Ebene bleibt die Studie unbequem. Sie zeigt, dass Systeme, die ältere Menschen auf funktionierende Abläufe reduzieren, an der Oberfläche Erfolg haben und trotzdem Menschen zurücklassen können. Ein dichtes Programm, ein sauber organisierter Alltag, gepflegte Infrastruktur ersetzen keine tragfähigen Beziehungen. Quartierarbeit, Vereine, Hausärztinnen und Hausärzte, Gemeinden, Arbeitgeber im Übergang zur Pension – sie alle können Einsamkeit sichtbar machen oder übergehen. Die Daten legen nahe, dass Übergehen einen Preis hat.
Du musst nicht auf politische Programme warten, um damit zu beginnen, anders zu handeln. Du kannst einer Person in deinem Umfeld heute signalisieren, dass du sie im Blick hast. Du kannst die eine Nachricht schreiben, den einen Anruf machen, den du schon lange vor dir herschiebst. Du kannst in einem Gespräch eine Schicht tiefer gehen und riskieren, dass es kurz still wird, weil jemand nachdenken muss. Genau in dieser Art von Kontakt entsteht das, was Einsamkeit langfristig entschärft: das Gefühl, dass jemand da ist, der hinschaut und bleibt.
Wenn du diesen Text liest, bist du Teil der kleinen Gruppe von Menschen, die sich mit Studien zu Einsamkeit und Sterberisiko beschäftigen. Das ist kein Massenhobby. Du hast damit einen Wissensvorsprung. Die Frage ist, was du damit machst. Hängst du die Information zu den anderen Gesundheitsfakten ins mentale Regal, oder lässt du zu, dass sie deine Prioritäten verändert?
Vielleicht heisst das konkret, dass du dir einen wiederkehrenden Kontakt mit einer bestimmten Person fest einplanst. Vielleicht heisst es, dass du beim nächsten Besuch bei deinen Eltern oder Grosseltern gezielt nach ihren sozialen Beziehungen fragst. Vielleicht heisst es, dass du deine eigene Zukunft nüchtern anschaust und dir überlegst, wie dein Leben mit 75 aussehen soll, wenn Arbeit und bisherige Rollen wegfallen.
Einsamkeit und soziale Isolation lassen sich nicht in einem Schritt aus der Welt schaffen. Aber du kannst beginnen, sie als das zu sehen, was sie sind: ernstzunehmende Gesundheitsrisiken, auf die du Einfluss hast. Die norwegische Studie hat Zahlen geliefert. Ob diese Zahlen in deinem Alltag Spuren hinterlassen, hängt davon ab, ob du bereit bist, aus ihnen Konsequenzen zu ziehen.
Die wichtigste davon passt in einen Satz: Warte nicht, bis Einsamkeit chronisch wird, weder bei dir noch bei anderen. Handle früher. Sprich darüber. Mach konkrete Angebote. Und nimm jede Antwort „Ich bin manchmal einsam” als Anlass, dranzubleiben, nicht als Randnotiz.

